exclamatio

Exclamatio: Ausruf; von (lat.) exclamare: aufschreien, ausrufen, laut beim Namen nennen, laut vortragen, laut applaudieren.

QUINTILIAN (Institutio oratoria, IX ii 27)
Manche nennen den Ausruf eine exclamatio und zählen ihn zu den Figuren. Wenn aber der Ausruf echt ist, zählt er nicht zu den Redeformen, die uns hier beschäftigen. Ist er aber nachgebildet und kunstvoll gestaltet, kann er ohne Zweifel zu den Figuren gezählt werden. [10]Bartel, Dietrich (1997): Handbuch der musikalischen Figurenlehre. Laaber: Laaber-Verlag. 3. rev. Aufl. 1985

In der musikalischen Rhetorik- und Figurenlehre des Barock gilt die exclamatio als ein heftiger, stark gefühlsbetonter Ausruf, der – den diesbezüglichen Ausführungen Zachers folgend – »auch so etwas wie Staunen zum Ausdruck bringen kann«. Er empfiehlt als Signum dieser Figur in der Partitur ein Rufzeichen anzubringen, das als Erinnerungshilfe zur richtigen Interpretation der jeweiligen Stelle im Notentext fungiert. Die Silben mi fa werden in diesem Fall zu Siglen einer relativ heftigen rhetorischen Figur, die vom Interpreten starke Affekte einfordert und somit an seinen Ausdruckswillen appellieren. Über eine exclamatio einfach emotionslos »hinweg zu singen«, galt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der spätbarocken Epoche unter Kennern als untrügliches Indiz musikalischer Amateurhaftigkeit, »wobei weniger das Intervall selbst den Affekt ausmacht«, sondern eher der damals sicherlich noch gehörte, und damit bewusst wahrgenommene »Systemsprung«.

Systembedingte Bedeutungsumfelder einer exclamatio wären etwa:
Die Stimme erheben, laut ausrufen, aus sich herausgehen bzw. heraustreten, eine Grenze überschreiten, »auf etwas besonderes- bzw. sogar verborgenes (quasi mit »erhobenem Zeigefinger«) aufmerksam machen«.

Aufgrund der Guidonischen Mutationslehre kann die Konstellation fa mi bzw. mi fa auch eine große Terz (siehe dazu die Skizze auf S. 16) und darüber hinaus laut Fux (Caput postremum, de hodierno Musicae, S. 37) noch eine verminderte Quarte sein – in diesem Fall: mi fa.

Georg Philipp Telemann gibt in seinen »Singe-, Spiel- und Generalbaß-Übungen« (1733–1734) auch noch die übermäßige Sekunde (es – fis) sowie die übermäßige Sexte (es – cis) als mi-contra-fa-Konstellationen an.

Die Gesetze des doppelten Kontrapunktes der Oktavgattung bescheren zu allem Überfluss (dieser leider etwas banale Zusatzkommentar möge aus Gründen der Anschaulichkeit verziehen werden) als Komplementärintervall der kleinen Sekunde noch die große Septime mit der Bezeichnung fa mi sowie die verminderte Septime als Komplementärintervall der übermäßigen Sekunde mit der Bezeichnung mi fa. Die verminderte Terz mi fa ist Komplementärintervall der übermäßigen Sexte fa mi. Die verminderte Quarte mi fa ist Komplementärintervall der übermäßigen Quinte fa mi. Die kleine Non ergibt sich aus der Oktavversetzung des fa.

Jetzt scheint das Chaos perfekt. Kleine Sekunde, große Septime, übermäßige Sekunde, verminderte Septime, verminderte Terz, übermäßige Sexte, große Terz, kleine Sext, verminderte Quarte, übermäßige Quinte, übermäßige Quarte, verminderte Quinte und kleine Non – alles korrekte Realisationen einer einzigen Silben-Konstellation: fa  mi  bzw.  mi  fa?

korrekte Realisationen

Diese Ambiguität befremdet und sie erweckt – nicht nur erst heute – bei so manchem kritisch- rationalen Geist kopfschüttelnd den Verdacht, dass in dieser Art des musikalischen Denkens, welches auf das Mittelalter zurückgeht, ein unnötig kompliziertes und daher auch reformbedürftiges Durcheinander herrscht. »Antike (antique) Dummheit« oder gar »Guidonische Marter«, etc. waren ja auch Johann Matthesons (1681–1764) wenig schmeichelhafte Worte für die althergebrachte Modus- und damit auch: Hexachordlehre. Er war sichtlich stolz darauf, das alte System »unter ansehnlicher Begleitung der zwölf griechischen Modorum als ehrbare Verwandte und Trauerleute zu Grabe gebracht zu haben und ließ sich im berühmt geworden »Federkrieg« gegen Johann Heinrich Buttstett (1666–1727), den Autor der Refutation: »Ut mi sol re fa la – tota Musica et Harmonia Aeterna« [11]Buttstett, Johann Heinrich (1716): Ut, Mi, Sol, Re, Fa, La, tota Musica et Harmonia Aeterna. Erfurt (Stadt­Bibliothek Erfurt)  im Traktat »Das beschützte Orchestre« 1717 sogar zum provokanten Kalauer von der »toten Musica« (statt »tota Musica«) hinreißen.

Gleichzeitig erscheint aber nunmehr die, an sich ja nicht uninteressante Aussage Bachs: »Fa  Mi et Mi Fa est tota Musica« in Bezug auf die anfangs angeführte ostinate Figur in einem etwas helleren Licht. Die Tatsache, dass im musikalischen Bewusstsein Bachs die Silbenkombination: mi fa einfach mehr bedeutete, als nur den Halbton zwischen der 3. und 4. Stufe der Durtonleiter entmystifiziert zunächst einmal in wohltuender Weise den in Bezug auf unsere heute übliche Denkweise zunächst tatsächlich etwas rätselhaften Denkspruch. Übrigens ist Bach nicht der Erste, der von der »gesamten Musik« (tota Musica) in Zusammenhang mit den Silben mi und fa spricht. [12]Johannes Crüger:
a) Synopsis musica, Berlin 1630. Siehe: J. Crüger, in: MGG II, S. 1806 f.; Anm.: dort: »Mi et fa sunt tota musica«
>b) Musicae Practicae praecepta brevia Berlin / sumptibus Authoris 1660. Hrsg. Von Florian Grampp, DOCUMENTA MUSICOLOGIA Erste Reihe: Druckschriften-Faksimiles XLIII. Bärenreiter-Verlag, Kassel 2006. Anm.: dort: »Die Voces mi fa (als Kern der ganzen harmoniae)«, S. 5